Neben der Suche nach weiteren Patriot-Feuereinheiten und einem immer wahrscheinlicher werdenden Trainingseinsatz in der Ukraine steht derzeit vor allem ein Thema auf der Tagesordnung: Wird der Westen der Ukraine erlauben, sich mit den von ihm gelieferten Waffen auf russischem Territorium zu verteidigen?
Denn mit der Verschärfung der russischen Angriffe auf die Region Charkiw vor etwa drei Wochen wurde immer deutlicher, dass Russland trotz der seit über zwei Jahren andauernden vollständigen Invasion immer noch problemlos seine Soldaten an der ukrainisch-russischen Grenze versammeln und die gesamte Region ohne großen Widerstand terrorisieren kann.
Inzwischen haben einige Länder – darunter das Vereinigte Königreich, Frankreich und die Tschechische Republik – bereits öffentlich ihre Zustimmung dazu gegeben, dass sich die Ukraine mit den von ihnen gelieferten Waffen auf russischem Territorium verteidigen kann, während andere Länder wie Deutschland und die USA dem weit weniger positiv gegenüberstehen.
Öffentlichen Informationen zufolge durfte sich die Ukraine im Falle Deutschlands nur mit den von Deutschland gelieferten Waffensystemen auf ukrainischem Gebiet verteidigen – zumindest bis gestern. Die Angst, in den Krieg hineingezogen zu werden, war und ist im Team um den Bundeskanzler und in ihm selbst sehr präsent.
Trotzdem trat Scholz gestern beim deutsch-französischen Ministerrat im Schloss Meseberg gemeinsam mit Macron vor verschiedene Presseteams und kündigte auf die Frage eines Reporters, ob er eine rote Linie beim Einsatz der von Deutschland gelieferten Waffen auf russischem Territorium ziehen würde, an, dass die Ukraine dies tun dürfe, solange sie sich im Rahmen des Völkerrechts bewege.
Ein klares Zeichen für einen Strategiewechsel! Bislang hat Scholz immer wieder betont, dass sich die Ukraine mit den von Deutschland gelieferten Waffen nur auf ihrem eigenen Territorium verteidigen darf.
In seiner Rede auf Schloss Meseberg hat Scholz zwei Punkte angesprochen, die ich gerne aufgreifen möchte. Erstens, dass er es seltsam findet, dass einige Leute darüber diskutieren, dass die Ukraine sich nicht selbst verteidigen darf (auf russischem Territorium) und dass es nie eine solche Anfrage von Deutschland gegeben hat.
Nur ganz kurz zum letzten Punkt, der definitiv falsch ist, und das möchte ich klarstellen. Vor fast genau einem Jahr hat er zum Beispiel gegenüber der Presse erklärt, es sei klar, dass „die Waffen die wir geliefert haben nur auf ukrainischem Territorium eingesetzt werden“.
Wir können also nur vermuten, woher die Änderung der Strategie kommt. Aber nun zum zweiten Punkt. Was die Diskussionen angeht, so bezieht er sich wahrscheinlich auf einen Artikel, der gestern in der BILD erschienen ist und für viel Gesprächsstoff gesorgt hat.
BILD schreibt, dass die ukrainische Armee ihren Informationen zufolge mindestens einmal ein von Deutschland geliefertes Patriot-Luftabwehrsystem zur Verteidigung auf russischem Territorium eingesetzt hat. Die angebliche Reaktion darauf sollen verärgerte Anrufe aus Berlin und Washington gewesen sein, die mit einem Lieferstopp drohten, sollte sich dies wiederholen.
Der Vorfall, auf den sich BILD bezieht, ist in der Tat kein geheimer, sondern einer, der bereits vor 10 Monaten öffentlich gemacht wurde und über den ich seit Juli 2023 bereits mehrfach berichtet habe.
Der Brjansk-Vorfall
Vor fast genau einem Jahr, am 13. Mai 2023, flogen zahlreiche russische Flugzeuge – genauer gesagt ein Su-34-Kampfjet und ein Su-35-Kampfjet sowie drei Mi-8-Hubschrauber – über russisches Gebiet in der Region Brjansk nahe der ukrainischen Grenze.
Innerhalb kürzester Zeit stürzte jedes dieser Flugzeuge auf den Boden. Ersten Berichten zufolge handelte es sich um einen Fall von „friendly fire“. Eine Aussage, die nach solchen Vorfällen oft gemacht wird und die gelegentlich tatsächlich zutrifft.
Es wurde jedoch relativ schnell klar, dass die Ukraine für die Abstürze verantwortlich war. Die interessante, aber unbeantwortete Frage war: Wie wurde der Angriff durchgeführt?
Anfang Juli 2023, rund zwei Monate nach dem Vorfall, veröffentlichten die ukrainischen Luftstreitkräfte ein Video zum Tag der Flugabwehrraketenstreitkräfte. In einigen Sekunden des etwa zweiminütigen Videos ist ein Teil der ersten von Deutschland gelieferten Patriot-Feuereinheit zu sehen.

Hier sieht man die Markierungen der russischen Flugzeuge, die am 13. Mai 2023 in Russland abgeschossen wurden. Ein erster großer Hinweis darauf, dass sich die Ukraine auf russischem Territorium mit einem von Deutschland gelieferten Flugabwehrsystem verteidigt hat, zu einem Zeitpunkt, als die Ukraine dies eigentlich nicht durfte, während der Einsatz im November 2023 vom Sprecher der ukrainischen Luftwaffe, Yurii Ihnat, offiziell bestätigt worden war.
Eine ukrainische Gratwanderung zwischen dem Einsatz der eigenen überlegenen militärischen Stärke zum Schutz des Landes und der Erfüllung der mit verbündeten Ländern getroffenen Vereinbarungen, um die künftige Militärhilfe dieser Länder nicht zu gefährden.
Interessanterweise wurde dieser Einsatz der ersten von Deutschland gelieferten Patriot-Feuereinheit meines Wissens nach nie wirklich in den deutschen Medien behandelt und von deutschen Experten im Allgemeinen totgeschwiegen oder geleugnet. Tatsächlich ist der vor Kurzem veröffentlichte BILD-Bericht, in dem nicht einmal erwähnt wird, was im Einzelnen geschah, der erste Bericht in einer großen deutschen Nachrichtenagentur, der sich zumindest irgendwie darauf bezieht, soweit ich mich erinnern kann.
Meiner Meinung nach hat dies entweder mit mangelndem Wissen zu tun oder damit, dass die Debatte über eine mögliche Lieferung des Marschflugkörpers Taurus KEPD-350 zu diesem Zeitpunkt in vollem Gange war.
Schließlich wurde immer wieder betont, dass die Ukraine nie das deutsche Vertrauen missbraucht oder gegen Vorschriften verstoßen hat.
Ich möchte noch einmal betonen, dass ich die Operation nicht missbillige, dass ich sie für richtig halte und sie vollständig durch das Völkerrecht gedeckt ist. Dennoch ist es ein Widerspruch in sich.
Entweder hat die Ukraine gegen die Vereinbarung verstoßen, sich nur auf ukrainischem Gebiet zu verteidigen, oder sie hat sich an die Vereinbarung gehalten. Im letzteren Fall wären jedoch die aktuellen Debatten über den Einsatz der von Deutschland gelieferten Waffensysteme sinnlos, da die Ukraine bereits im vergangenen Jahr dazu ermächtigt worden wäre.
Aber das Eingeständnis, dass die Ukraine (möglicherweise) gegen die Vorschriften verstoßen hat, hätte der ständigen Berichterstattung gegen den Bundeskanzler sicher geschadet. Ich denke sogar, dass dieser Vorfall einen gewissen Einfluss auf die Entscheidung des Bundeskanzlers gehabt haben könnte, die Lieferung des deutschen Marschflugkörpers zu verweigern.
Aber es gibt noch eine andere Sache, über die wir nachdenken müssen. Es muss einen Grund geben, warum wir seit dem Vorfall in Brjansk vor über einem Jahr keine ernsthaften Beweise dafür gesehen haben, dass sich etwas Ähnliches wieder ereignet hat.

Schließlich dürfte es kaum einen Grund geben, warum die ukrainischen Luftstreitkräfte eine solche Operation nicht wiederholen sollten, zumal die russischen Luftstreitkräfte sogar zeitweise auf Flüge in der Region verzichteten, nachdem die von Deutschland gelieferte Patriot-Feuereinheit Tage später eingesetzt wurde, um einen weiteren russischen Su-35-Kampfjet vom Himmel zu holen. Ein großer Sieg für die AFU.
Eine einfache Erklärung ist natürlich, dass es tatsächlich wütende Anrufe aus Berlin und Washington gab. Ein hartnäckiges Gerücht, das ich natürlich weder widerlegen noch beweisen kann.
Letztlich sollten wir immer eines im Auge behalten. Wenn wir der Ukraine so leistungsfähige und effiziente Waffensysteme zur Selbstverteidigung liefern, sollten wir der Ukraine auch erlauben, sie bestmöglich zu nutzen.
Und darauf zu warten, dass um drei Uhr morgens ein weiteres Dutzend Marschflugkörper auf eine ukrainische Großstadt abgefeuert wird, kann kaum das bestmögliche Einsatzszenario sein.
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